Nicht schwarz, nicht weiß

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(…) meine Stadt hat tiefe Furchen, Narben und Falten. Manche sind von Ostern 1941, andere von Ostern ´43 und ´44. Die neuesten noch schwelenden Narben sind von Ostern 1999. Man könnte sie eine hässliche Stadt nennen. Nie hat sie eine teure Verschönerung bekommen, nie wurde sie vollständig zurecht gemacht. Eine Stadt mit leer gebombten Flecken- wie ein Hungerleider mit einem angegriffenen Gebiss. Eine Stadt mit verschiedenen Schichten billigen Make-ups, die nun durch das viele Löschen verwässert sind, wie bei einer heulenden Frau. Eine Stadt, die von der Hälfte ihrer Bewohner als eine gottvergessene Zwischenstation nach anderswo angesehen wird.

Dennoch liebe ich meine Stadt. Vielleicht gerade wegen ihrer Narben und Falten. (…) so wie man jemanden lieb hat für das, was er ist und nicht für das, was er darstellt. Wahrscheinlich braucht man für Liebe keinen Grund. Am liebsten würde ich sie nun durch mein Fenster streicheln und grüßen. Und zusammen mit ihr auch andere Städte mit Narben  sowie Sarajevo, Mostar, Vukovar, Rotterdam, Dresden, Coventry, Stalingrad, Hiroshima, Nagasaki, Leskovac, Niš, Podgorica…(…)

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1999 erlebte Jelica Novaković-Lopušina die NATO-Bombardierungen auf ihre Stadt Belgrad und teilte ihre Erlebnisse und Gedanken zum Krieg mit den Menschen im Westen, indem diese jeden Tag ihre Tagebuchbriefe in niederländisch-sprachigen Zeitungen lesen konnten. Die Menschen, vor allem diejenigen, die nicht damit einverstanden waren, dass ihre Regierungen sich an den Bombardierungen beteiligten, reagierten darauf und schrieben Briefe an Jelica.

In „Nicht schwarz, nicht weiß“ spricht sie darüber, zwei Jahre danach.

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Ein altes serbisches Sprichwort besagt: „Glücklich ist, wer rechtzeitig wahnsinnig wird.“ Damit ist die Verrücktheit als letzte Möglichkeit gemeint, um dein Inneres vor der Welt zu beschützen. Du wiegst dich in dem Wahn, dass du über diese Welt erhaben bist. Du wirst unnahbar für den Schmerz, der davon ausgeht.

Um so einen Satz zu Weisheit zu erheben, musst du dir schon ein hässliches Weltbild gebildet haben! Was den Menschen also daran hindert, glücklich zu sein, ist sein Bewusstsein von der Wirklichkeit um ihn herum.

 Bei meinen täglichen Spaziergängen durch die Stadt versuche ich dennoch glückliche Gesichter zu entdecken. Die zwei häufigsten Kategorien, die ich festgestellt habe, sind Verrückte und Verliebte. Oder vielleicht sind das nur zwei eng verwandte Erscheinungsformen derselben Sorte. Die autistische Genügsamkeit von verliebten Paaren ist auch in Friedenszeiten ein bekanntes Phänomen. Trunken vor Liebe drehen sie sich um die Achse ihres eigenen Universums, Millionen Lichtjahre entfernt vom Sonnensystem und unserem blauen Planeten.

Ich sah sie lachend, weil der Luftalarm sie in einem dunklen Türeingang erwischt hat, ich sah sie schmusend in Parks während andere in Scharen zusammenkamen, um die Nachrichtensendungen im Radio zu hören. Ich sah sie sich küssend, weil sie jeden Tag ihre Verliebtheit feiern und Kriegstage zählen doppelt.

Glücklich ist, wer nun verrückt ist…nach jemandem.

Die Textstellen stammen aus der niederländischen Ausgabe des Buches „Gelukkig is wie bijtijds waanzinning wordt“ von Jelica Novaković-Lopušina.